Iris_Wortwolke

Lesen und Schreiben in der Trauer

Lesen - Schreiben - Trauern: Wie passt das zusammen? Ein Seminarwochenende der Fortbildung "Trauerzentrierte Fachberatung" ist dem kreativen Schreiben gewidmet. Dazu hier ein subjektiver Erfahrungsbericht.

Lesen und Schreiben sind meine Leidenschaft seit ich lesen und schreiben kann. Es hat mich immer fasziniert, wie ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin Empfindungen in Worte, Sätze und sprachliche Bilder bringen und dabei haarfeine Nuancen sprachlich fassen kann. Die Liebe und der Tod, diese beiden Zwillingskinder unter den großen Themen der Weltliteratur, haben es mir dabei besonders angetan. Insofern war ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin bei TRAUART sehr neugierig – und ehrlich gesagt ein wenig skeptisch –, ob und wie Trauer und Poesie zusammenpassen. - Ich bin auf ganzer Linie positiv überrascht worden. Auch von mir selbst.
 
Unter der behutsamen Anleitung von Alexander Wilhelm und Anne Holling konnte ich erfahren, wie verschiedene Formen und Modi im Schreiben heilsame Prozesse in Gang setzen. Nicht nur das Formulieren eines Briefes an einen lieben Verstorbenen, das Tagebuch-Schreiben oder das Formulieren einer Abschiedsrede sind Formen, die in der Trauerbegleitung zum Einsatz kommen. Auch und gerade die literarischen Textsorten – wie z.B. Haiku, Zweizeiler, Vierzeiler, Elfchen – können eine wunderbare Möglichkeit sein, abschiedlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
 
Wie schöpferisch und wirkungsmächtig der Prozess des Schreibens sein kann, ist mir in dieser Seminareinheit bewusst geworden. Was mich dabei nachhaltig beeindruckt hat, ist die Leichtigkeit des Prozesses und wie viel sich damit gestalten lässt. Wenn vorher ungeordnete Gedanken und Wortfetzen, die Wut, Zerrissenheit, Sehnsucht, Traurigkeit und Schmerz ausdrücken, über verschiedene Schritte des Überarbeitens und „In-Form-Bringens“ neu geordnet werden, dann macht es etwas mit den Texten – und mit dem Schreiber/der Schreiberin auch. Einige Funktionen des Schreibens in der Trauer möchte ich im Folgenden näher beleuchten:

SCHREIBEN HÄLT FEST – SCHREIBEN GIBT HALT
Das geschriebene Wort ist immer ein Mittel, flüchtigen Gedanken dauerhaft Gestalt zu verleihen – ob in Stein gemeißelt, auf Pergament geritzt, mit dem Stift zu Papier gebracht oder in die Tastatur getippt. Im Schreiben geben wir einer fluiden Idee eine sprachliche Form, unsere Buchstaben, Sätze, Textteile geben den Gedanken materiell Ausdruck. Das betrifft auch unsere Gefühle, Schmerzen und vage Empfindungen, die sich eigentlich kaum in Worte fassen lassen. Diese Qualität können wir in der Trauerbegleitung nutzen. Schon allein die Möglichkeit, dass im geschriebenen Wort etwas festgehalten werden kann, ist wertvoll. Es kann für Trauernde etwas sehr Tröstliches und Haltendes haben, wenn im Geschriebenen Erinnerungen geweckt und wachgehalten werden. Liebe, Dankbarkeit, Verbundenheit, durchlebte Krisen, gemeinsame Erfolge und Niederlagen – das kann festgehalten werden und kommt mir nicht abhanden. Ich kann einen Gedanken bewahren, ohne mich obsessiv anklammern zu müssen.
 
SCHREIBEN UND VORLESEN
Gleichzeitig hat das Festhalten in der Schrift noch eine andere wichtige Funktion: der geschriebene Text ist nicht nur eine Gedächtnisstütze und ein Erinnerungsspeicher für den Trauernden selbst, sondern er ist auch lesbar für andere. Man kann nicht nur die eigenen Texte wiederlesen und sich neu erinnern, sondern auch anderen Menschen vorlesen und sich in den Texten mitteilen. Das geschriebene Wort kann damit ein Instrument sein, mit anderen Menschen in Resonanz zu gehen, was eine wunderbare Möglichkeit der Kommunikation und Interaktion inititeren kann. Die Kulturtechnik des Lesens/Schreibens hat damit nicht nur die Funktion des Festhaltens, sondern gibt selbst Halt und schafft Verbindungen mit der Welt.  Weil dem Vorlesen eine intensive Bearbeitung und Auseinandersetzung mit dem Text vorangegangen ist, teilt der Trauernde seine Empfindungen sehr bewusst. Er zeigt sich in seiner Verletzlichkeit, bewahrt aber Kontrolle und ist dadurch geschützt.
 
SCHREIBEN ENTLASTET
Schreiben kann sehr entlastend wirken. Man kann sich tatsächlich etwas von der Seele schreiben: Einen Gedanken, der uns quält, können wir „bannen“, indem wir ihn aus dem Kopf zu Papier bringen. Manchmal ist das ganz banal, etwa wenn wir nachts wach werden und beispielsweise befürchten, etwas Wichtiges zu vergesessen. Dann ist es gut, den Gedanken aufzuschreiben, damit er raus ist aus dem Kopf. (Aus diesem Grund habe ich immer Bleistift und Papier neben dem Bett, damit ich in solchen Fällen einfach zum Stift greifen kann. Ein beunruhigender Gedanke wird aufgeschrieben, und danach kann ich ruhig weiterschlafen.) Entlastend kann es auch sein, wenn ich eingem Schmerz einen Namen gebe, wenn ich einen Begriff dafür finde, der das ausdrückt, was mir weh tut. Ich nehme dann sehr viel genauer wahr, was mich genau drückt. Manchmal ist es auch gar nicht leicht, das richtige Wort zu finden. Das Wort, das wir einem Gefühl geben, kann vielleicht nicht ausdrücken, was wir in unserem tiefsten Inneren empfinden. Ein Wort kann kleiner oder größer oder anders sein – aber immerhin: ich bin es, der dem Schmerz einen Namen gibt. Aus dem diffusen Gefühl des Ungesagten, Ungelebten oder Unerwünschten wird etwas, das ich benennen kann. Die Trauer geistert nicht mehr durch meinen Kopf, sondern wird gestalt- und wandelbar.
 
SCHREIBEN PRÄGT ERKENNTNIS
Schreiben ist ein Mittel, uns besser zu verstehen.  Indem wir Dinge zur Sprache bringen, indem wir Gefühle, Empfinden oder Schmerz in Worte fassen, werden wir uns unserer Gedanken bewusst. Der Schriftsteller Heinrich von Kleist hat für diesen Gedanken den schönen Begriff vom „Verfertigen des Gedankens beim Sprechen“ geprägt. Erst indem wir unsere Gedanken und Gefühle sprachlich ausdrücken, entwickelt sich der Sinn. Das gilt für das gesprochene Wort; und noch viel mehr für das geschriebene, weil hierbei noch das Moment der Verlangsamung hinzukommt. Wir setzen die Worte langsamer als wir sprechen, entwickeln den Text Schritt für Schritt und passen unser Denken dem Rhythmus von Stift oder Tastatur an. Dies hat den positiven Nebeneffekt der Entschleunigung. Unser Gedankenkarussell muss also einen Gang herunterschalten. Oder umgekehrt: Wenn Blockaden und Starre den inneren Gedankenfluss hemmen, kann eine tastende Bewegung im Schreiben unser Denken Schritt für Schritt, Wort für Wort wieder in Bewegung bringen. Inspirieren lassen können wir uns bebei von Bildern, Texten oder Musik. Besonders beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang die Erfahrung des „Free-Writing“, bei dem wir dem Stift die Erlaubnis geben, einfach nur zu schreiben. Er darf schnell, langsam, schön oder krakelig schreiben – alles darf sein, nichts muss.  Dieses absichtslose Schreiben ohne Ziel und Thema kann sehr befreiend und lösend wirken und Gedankenmaterial und Sinnzusammenhänge zutage fördern, die mir etwa Neues über mich erzählen.  Zu sehen, wie nicht mehr „ich“ schreibe, sondern dass „es“ aus mir herausfließt, erschließt Zusammenhänge, die vorher ungesehen waren.
 
SCHREIBEN KANN TRAUER VERWANDELN
Schreiben – besonders das schöpferische Arbeiten an Texten – ist immer ein Prozess der Wandlung. Wenn wir etwas aufschreiben, dann nehmen wir unsere Gedanken ernst. Wir finden Worte für das bisher Ungesagte und bringen es in eine Ordnung. Wenn wir mit kleinen literarischen Formen wie Haiku oder Elfchen arbeiten, dann fassen wir das bisher diffuses Gedankenmaterial in eine neue Gestalt. Dabei ist es hilfreich, sich an feste vorgegebene Regeln zu halten. Die Form stützt quasi das sprachliche Material, die Ordnung – und die als ästhetisch ansprechend erlebte Form – geben dem Gedanken eine (neue) Struktur. Überdies erlebt sich der Schreibende als Schöpfer; es verschafft den Trauernden in ganz elementarer Weise einen Moment der Selbstwirksamkeit, der einen Moment des aktiven Gestaltens markiert. Im besten Fall gelingt es, eine Seite in uns zum Klingen zu bringen, die es uns erlaubt, etwas ganz Einzigartiges und Schönes zum Ausdruck zu bringen. Trauer ist eine menschliche Fähigkeit, uns von Grund auf in Frage zu stellen und oftmals auch eine Quelle des Schöpferischen. Ohne die Trauer zu heroisieren: Es kann etwas zutiefst Beglückendes sein, wenn wir uns unserer Fähigkeit bewusstwerden, unsere Trauer als Teil unseres Selbst anzunehmen.
 
Die Praxis des kreativen Schreibens setzt ein besonderes Potenzial frei, das – zumindest in der initiierenden Phase oder der akuten Trauer –  einen geschützten Raum und einen stützenden Rahmen braucht: Weil sich im Schreiben sehr tiefgründige (und auch abgründige) Erfahrungsräume auftun können, bedarf es der behutsamen Anleitung und der Schaffung eines begrenzenden Rahmens. Der Wirkungsmacht der Poesie-/Bibliographie braucht Regeln und Grenzen, damit man sich im Schreiben nicht im Labyrinth der Emotionen verirrt. Nach der sehr sorgfältig vorbereiteten und fundierten Seminareinheit zur Poesie- und Bibliotheraphie bin ich mir der großen Chancen, aber auch nötigen Grenzen wohl bewusst. Schreiben in der Trauer kann ein Weg sein, sich einen Weg durch seine Trauerlandschaften zu bahnen, ohne sich in ihnen zu verirren.
 
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